
Pelle ist fünf Jahre lang in einen ganz tollen Kindergarten gegangen. Das war ein städtischer Kindergarten, aber das Programm und die Einstellung waren genau passend (bei Wind und Wetter draussen, Zuckerfrei, Familienstrukturgruppen etc.). Und seine Erzieherin war großartig. Sie ging mit den Kindern so um, als hätte sie alle Bücher von Jesper Juul, Wolfgang Bergmann, Remo Largo und Wiesiealleheißen gelesen oder gar selber geschrieben. Nur, dass sie diese Bücher gar nicht kannte. Sie war einfach von Natur aus so. Bzw. hat sie selber einmal als Begründung angeführt, dass sie jahrelang in einer Einrichtung mit besonderen Kindern gearbeitet hat. Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Dadurch hat sie absolut verinnerlicht, dass jedes Kind anders ist, sie hat gelernt hinzuschauen wer das Kind ist und was es braucht. Eigentlich war alles perfekt. Nur Pelle wollte dort nicht alleine hin. Der Abschied morgens war fünf Jahre lang gleichbleibend schwierig. Ich hab ihm jeden Morgen die Wahl gelassen, ob er mit mir in die Universität kommt oder im Kindergarten bleibt. Dass das eine ganz beschissene Auswahl für ihn war, hab ich ausgeblendet. Er wollte ganz dringen doll mit anderen Kindern spielen aber er wollte eben auch nicht ohne ein Elternteil sein. Ich hab gedacht, dass eben nur das eine oder das andere geht. Also hat es ihn fast jeden Morgen zerrissen und er blieb nur mit Ablenkung dort.
Drei Monate bevor er eingeschult wurde haben wir ihn abgemeldet und zu Hause gelassen.
Dann kam er in eine total tolle Reformschule in unserem Stadtteil. Das Programm klang super (u. a. altersübergreifende Klassen) , die geplanten Lehrer waren perfekt. Aber so richtig bereit war Pelle trotzdem nicht. Zur Schulreife gehört auch, dass das Kind sich unproblematisch von den Eltern lösen kann. Konnte er zu dem Zeitpunkt ganz klar nicht. Aber in Deutschland darf ein Kind nicht länger als sieben Jahre ohne Schule leben. Also musste er dort hingehen.
Ein paar Wochen vor Schulbeginn kam die Nachricht, dass die komplette Struktur geändert wird. Statt altersübergreifenden Klassen gibt es jetzt Standartklassen. Pelle wäre mit zehn anderen Erstklässlern eigentlich zu zehn Zweitklässlern dazu gekommen. Auch die Lehrer sind nicht mehr verfügbar. Er hätte eigentlich eine Frau und einen Mann als Klassenlehrer bekommen. Den Lehrer hatte er schon kennengelernt und mochte ihn. Wir waren schon auf dem ersten Elternabend, hatten die beiden Lehrer und die anderen Eltern kennengelernt und alles inkl. Beiträge für die Klassenkasse besprochen. Statt dessen wurde jetzt eine neue Kraft gesucht und man hoffte, uns die neue Lehrerin noch vor Schulbeginn vorstellen zu können.
Wir haben uns Mühe gegeben, das alles trotzdem positiv zu sehen und Pelle das Gefühl zu geben, dass alles gut wird.
Wurde es nicht.
Er konnte morgens nicht dort hin gehen. Sein Bauch rebellierte. Er war völlig verzweifelt jeden morgen, weil er das Gefühl hatte auf Toilette zu müssen aber da kam nichts. Also saß er dort und hat geweint. Elvis ist dann immer mit ihm zur Schule gegangen und dort konnte Pelle noch mal so lange auf Toilette gehen, bis er das Gefühl hat er kann in den Klassenraum. Wenn er dann immer noch sehr unsicher war, blieb Elvis auch noch mit im Klassenraum. Pelle saß neben seinem besten Freund auf den er sich auch jeden Morgen riesig freute. Nur half ihm das auch nicht bei seiner Unsicherheit.
Nach nur einer Woche bekamen wir dann das erste mal von der Klassenlehrerin zu hören, dass Pelle ein Spiel mit uns spielt. Und wenn wir uns auf dieses Spielchen einlassen, wären wir eben selber schuld.
Wir haben so viel mit Pelle geredet. Wir haben uns gefragt was wir falsch gemacht haben. Was wir hätten anders machen können in den letzten Jahren, um ihm mehr Selbstsicherheit und Vertrauen zu geben. Was wir jetzt anders machen könnten. Ich hatte in den letzten fünf Jahren schon so viele Aussagen und Ratschläge von Fachleuten gehört. Die meisten waren absolut nutzlos.
Heute, fünf Jahre später: Pelle geht heute wieder in die Filmschule zu einem vier tägigen Workshop. Er hat dort schon gearbeitet. Er kennt den Filmmann. Er geht mit einem seiner besten Freunde dort hin. Luzie geht in der Zeit zu einem Praktikum auf den Archehof einer ganz tollen Selbstversorgerin mit Eseln, Schafen, Enten und Hühnern. Die Frau kennen wir vom Sehen. Ich mag ihre Einstellung zu Tieren sehr.
Pelle ist seit gestern aufgeregt. Heute morgen sagte er, dass sein Körper die ganze Zeit behauptet, dass er auf Klo muss aber das stimmt nicht. Da kommt nichts.
Luzie freut sich einfach nur auf ihr Praktikum. Sie ist heiter, fröhlich und gelassen. Sie redet davon, was sie dort alles machen will. Zuerst ging sie davon aus, dass sie dort auch schlafen würde. Das hab ich dann aufgeklärt.
Heute morgen beim Frühstück haben die beiden sich unterhalten. Pelle hat Luzie immer wieder gefragt, ob sie gar kein Lampenfieber hätte. Ob sie nicht aufgeregt sei. Nicht mal ein bisschen. Sie plapperte fröhlich vor sich hin, dass doch alles toll sei. Und dass sie sich freut dort ein Praktikum machen zu können.
Die beiden sind so unfassbar unterschiedlich. Wir sind gespannt wie Minimum in fünf Jahren so ist.